Ein Cowboy zum niederknien…

Prolog

Langsam verschwand die untergehende Sonne im Rückspiegel und mit ihr eine aufregende Zeit. Sie konnte ihn im Spiegel noch sehen. Aus einem Impuls heraus bremste sie. Seine Silhouette hob sich markant von dem Horizont ab. Er ging zu seinem Pferd und stieg auf. Statt loszureiten blickte er zu dem stehenden Auto in der Ferne. Er hatte Zeit…

Trotz der Distanz spürte sie seinen Blick. Dieser tiefe und fordernde Blick verursachte erneut eine Gänsehaut bei ihr. Obwohl er sich nicht in ihrer unmittelbaren Nähe befand meinte sie, ihn geradezu körperlich spüren zu können. Ihr wurde heiß und kalt als sie daran dachte, was sie die letzten Tage erlebt hatte.

I.

Bis auf eines klapprigen Käfers war auf der Landstraße weit und breit niemand unterwegs. Laute Musik dröhnte aus dem Radio. Maryann fuhr mit ihrem Wagen munter eine Meile nach der anderen runter und sang fröhlich mit dem Radio um die Wette. Kenny Rogers im Duett mit Dolly Parton traf genau ihre aktuelle Stimmung. „Islands in the stream“ war leicht und machte Laune auf Ferien. Es war Freitagnachmittag und sie war auf dem Weg in den Kurzurlaub. Eine Woche Spaß und hoffentlich Erholung in Sandusky. Sie hatte sich mit ein paar Freunden ein Haus direkt am schönen Eriesee gemietet. Sie fuhr ohne große Erwartungen, freute sich aber endlich mal rauszukommen. Immer nur die Uni war auf Dauer ganz schön langweilig. Es musste dringend ein Tapetenwechsel her. Da kam der Vorschlag ihrer besten Freundin von einem Kurzurlaub gerade recht. Schnell fanden sich weitere Mitstreiter und ein Ferienhaus war auch prompt gefunden. 

Im Kofferraum hatte sie neben dem obligatorischen Gepäck noch einen Picknickkorb gefüllt mit “lebensnotwendigen” Sachen wie Sekt und Knabbereien. Jeder hatte bestimmte Dinge zugeteilt bekommen. Sie fand es praktisch. Allein das heutige Abendessen wurde bestimmt spannend durch die vielen unterschiedlichen Mitbringsel. Am Wochenende gingen die Jungs wahrscheinlich in den Ort um Fleisch zu besorgen. Sie freute sich jetzt schon auf einen schönen Grillabend in geselliger Runde.

Langsam fing die Fahrt an, eintönig zu werden. Sie fuhr stupide an Feldern vorbei. An sich war dies ja nicht schlimm. Sie mochte die Natur. Wenn man aber alleine fährt und niemand zum Reden neben einem sitzt, kommt doch irgendwann die Langeweile. Problem war nur, dass noch einige Meilen zu fahren waren. Vielleicht hatte sie die Strecke doch etwas unterschätzt und hätte sich besser einer Fahrgemeinschaft angeschlossen. Jetzt war es zu spät und sie musste da wohl oder übel durch. So ergab sie sich in ihr Schicksal und fuhr weiter. Die Musik empfand sie als noch zu leise. Maryann drehte die Lautstärke höher. Das hob auch gleich wieder ihre im Tiefflug befindliche Laune. Das sollte aber nicht von langer Dauer sein. Sie merkte, dass der Wagen an Geschwindigkeit verlor. Selbst ein noch so beherzter Tritt auf das Gaspedal änderte nichts an der Geschwindigkeit. Es dauerte nur wenige Minuten und der Wagen blieb nach einem kurzen Ausrollen stehen. Maryann wusste gerade nicht, was passiert war. Sie versuchte, den Wagen zu starten, doch es tat sich nichts. An mangelndem Sprit konnte es nicht liegen. Sie hatte vor der Abfahrt vollgetankt. Das war so ein Tick von ihr. Immer mit vollem Tank auf die Autobahn. Aber diese Erkenntnis half ihr jetzt nicht. Ratlos stieg sie aus und ging einmal um das Auto herum. Eigentlich war es unsinnig, da sie keine Ahnung von Autos hatte. Selbst wenn sie irgendeinen Fehler oder Defekt finden würde, wäre sie nicht in der Lage, es wieder in Ordnung zu bringen. Sie fluchte und trat gegen den Reifen. „Verdammt, ich schicke Dich zurück nach Mexiko.“

Sie schaute sich um. Nichts als Felder und etwas weiter weg Rinder. Der letzte Ort, den sie passiert hatte, lag länger zurück. Beim Öffnen der Autotür fiel ihr Blick auf den Horizont. Maryann meinte, in der Ferne etwas gesehen zu haben. Durch die Sonne konnte sie aber nicht identifizieren, ob es sich um ein Haus oder nur eine Scheune für Vieh handelte. Mangels brauchbarer Alternativen schloss sie das Auto ab und machte sich auf den Weg. Konnte ja nicht so schwer sein, über eine Wiese zu laufen. Aber schon beim Versuch, die Felder zu betreten scheiterte sie. Maryann hatte die Absperrungen nicht bedacht. Eigentlich kein Problem, aber Sommerkleider eignen sich nur bedingt, um über Zäune und Drähte zu klettern. Es musste natürlich passieren. Sie versuchte, den Stacheldrahtzaun zu verbiegen um sich durchzuquetschen, als sie ein hässliches Geräusch vernahm. Mit einem Bein auf der Wiese sah sie den hässlichen Riss im Kleid. Vorsichtig schob sie sich weiter. Aufgeben war jetzt eh keine Option mehr. Nachdem Maryann sicher stand, ging sie über die Felder Richtung gesichteter Hütte. Sie hoffte nur, die Rinder würden ihr nicht zu nahe kommen. So ein ausgewachsenes Rind wirkte doch schon bedrohlich. Eigentlich hatte es ja einen gewissen Charme. Bei schönstem Wetter spazierte sie mitten über eine riesige Weidefläche. Der Wind wehte leicht und Fliegen umschwirrten sie. Rinder kauten Gras und schauten sie teilweise gelangweilt an. Perfekt wäre diese Idylle, wenn die richtige Begleitung bei ihr wäre. Nun gut, Träumereien halfen ihr jetzt nicht weiter. Also weiter laufen. Kurz bevor sie die angebliche Hütte erreichte war zu erkennen, dass es sich tatsächlich nur um Stallungen für die Rinder handelte. Die Enttäuschung war groß. Etwas mutlos drehte Maryann um und marschierte zu ihrem Auto zurück. Bereits aus der Ferne sah sie eine Person bei ihrem Wagen stehen. Sie überlegte kurz, ob sie weitergehen sollte. Er schaute in ihre Richtung und Maryann konnte nicht mehr die Richtung ändern. Das erschien ihr zu peinlich. Beim Näherkommen sah sie einen Typen, der lässig am Auto lehnte und eine Zigarette rauchte. Er trug eine Jeans, Cowboystiefel und ein kariertes Hemd. Also in ihren Augen ein heißer Typ und sie ging mit aufgerissenen Klamotten auf eben diesen zu. ‚Na tolle Wurst‘ dachte sie, ‘und ich muss mit kaputtem Kleid nochmals durch die Drähte klettern‘. Doch ihre negativen Gedanken waren unnötig. Er trat mit einem Fuß ein Stück Stacheldraht zu Boden und zog mit einer Hand das zweite Stück nach oben. So konnte Maryann ohne viel Mühe auf die Straße treten.

„Howdy“. Seine Stimme war dunkel, rau und kehlig. Sie atmete tief durch. „Hi“. Vor ihm stand eine junge Frau in einem mehr als lädierten Sommerkleidchen, ihre blonden Haare zurechtgeföhnt und die Sonnenbrille stylisch auf dem Kopf. Ihre Unsicherheit, die sie ihm gegenüber versuchte zu verbergen, war ihm nicht entgangen. „Was macht denn so ein hübscher Käfer hier im Niemandsland?“ Maryann traute ihren Ohren nicht. „Flirten Sie immer so hemmungslos mit Ihnen unbekannten Frauen?“ Der Fremde lachte laut auf. „Sorry, aber ich flirte grundsätzlich nicht mit Autos.“ Es dauerte einen Moment bis Maryann begriff. Mit „hűbscher Käfer“ meinte er ihr Auto. Was für ein peinlicher Moment. Unvermittelt reichte er ihr die Hand. „Ich bin Clive.“ sie war über die Geste überrascht und schüttelte verwundert die Hand. „Ich bin Maryann.“ Mit einem intensiven Blick musterte er sie kurz von oben bis unten und bevor sie etwas sagen konnte ging er direkt in die Offensive. „Nachdem wir jetzt die Formalitäten geklärt haben und wir uns kennen, können wir ja direkt zur Sache kommen. Steht noch alles unter Strom oder brauchst Du etwas Saft?“ Er stand aufrecht vor ihr mit einer Hand halb in der Hosentasche. Mit der anderen führte er seine Zigarette zum Mund und nahm einen Zug. Maryann wusste nicht, wie ihr geschah. Sie lief knallrot an. Was bildete sich dieser Möchtegerncowboy eigentlich ein. So eine plumpe Anmache hatte sie noch nie erlebt. Am liebsten wäre sie geflüchtet, wenn ihr Wagen funktionieren würde. Keine Hilfe weit und breit und dieser Cowboy schien ihr nicht ganz sauber. Clive merkte, dass sie anscheinend einen inneren Kampf mit sich führte, was ihn mehr und mehr belustigte. Wie weit könnte er das Spielchen wohl noch treiben? 

„Also, ich weiß ja nicht, was in Deinem Köpfchen gerade so abgeht, aber ich wollte nur wissen, ob Du Starthilfe für Deine Batterie brauchst.“ Er nickte in Richtung des Käfers. Maryann brauchte einen Moment um diese Aussage zu begreifen. Mein Gott. Dieser Clive bot Hilfe an und sie hatte nichts anderes zu tun als wilde Spekulationen anzustellen. Er war momentan ihre einzige Möglichkeit auf Hilfe. Sie holte tief Luft. „Entschuldigung. Ich bin ein wenig durcheinander. Der Wagen blieb von jetzt auf gleich stehen. Ich weiß nicht, was kaputt ist.“ Clive trat seine Zigarette aus, ging um das Auto und öffnete hinten die Klappe. „Na, dann wollen wir uns das gute Stück mal anschauen.“



II.

Maryann schaute Clive fasziniert zu. Er begutachtete den Motor und zog Kabel um sie wieder anzustecken. Ohne es zu wollen, konnte Maryann nicht den Blick von ihm lassen. Er trug einen Cowboyhut und sah im gleißenden Sonnenlicht verwegen aus. Ein lauter Knall schreckte sie aus ihren Tagträumen auf. Clive hatte die Motorhaube geschlossen und schaute sie an. “Probleme mit dem Zündverteiler. Ohne richtiges Werkzeug ist hier jetzt nichts zu machen.“ Bei Maryann kam langsam Panik auf. Der Wagen kaputt und sie irgendwo im nirgendwo. „Das geht nicht!“ Clive schaute sie an. Maryann wurde bewusst, dass sie gerade zu aufgebracht reagiert hatte. „Also, ich meine, ich brauche doch das Auto.“ Er konnte sich nicht helfen, aber ihre Hilflosigkeit fand er irgendwie niedlich. „Ich sehe ja ein, dass Du zu Deinem Date willst, aber Du musst einsehen, dass ich nicht der Zauberer von Oz bin.“ ‚Obwohl – das wird sich noch zeigen‘ dachte Clive für sich. Maryann war klar, dass er Recht hatte. „Entschuldige bitte. Ich hätte Dich nicht so anfahren dürfen.“ Ihm fiel auf, dass sie sich nicht zu dem von ihm erwähnten „Date“ äußerte. Sehr interessant. “Wo willst Du eigentlich hin?” Sie schaute ihn an. “Sandusky ist mein Ziel.” Er pfiff kurz durch die Zähne. “Dann hast du noch ein schönes Stück zu fahren. Aber mit dem Auto wird das heute definitiv nichts mehr.” Bevor sie gänzlich einer Panikattacke verfallen würde, sprach er schnell weiter. “Also, ich könnte Dich abschleppen und mir den Schaden in Ruhe anschauen. Meine Farm ist nicht weit von hier.” Mit einem Schlag wurde Maryann knallrot im Gesicht. Dieser Typ war unglaublich. In einer Tour baggerte er sie an. Was bildete er sich eigentlich ein. So toll war er nun auch nicht. Na gut, er war irgendwie schon toll. Aber nicht so toll, dass sie auf seine Baggerei reinfällt und sofort mit ihm in die Kiste springt. “Einen Dollar für Deine Gedanken.” Sie schreckte auf. Clive schaute sie an und grinste. Gott, konnte es noch peinlicher werden? Er meinte mit Sicherheit, das Auto abschleppen, nicht sie. “Sorry, ich denke nur gerade über meine Optionen nach.” Er nickte. “Hmmmm, und wie sehen diese aus?” Da sie nicht wirklich eine Wahl hatte, sprang Maryann über ihren Schatten. “Ich würde gerne Deine Hilfe annehmen. Es wäre nett, wenn Du vielleicht den Defekt an meinem Auto finden würdest.” Clive drehte sich auf dem Absatz um. “Kein Problem. Ich gehe mal davon aus, dass Du kein Abschleppseil bei Dir hast?” Bevor sie antworten konnte, sprang er mit einem Satz auf die Ladefläche seines Silverados. Clive ging zu einer größeren metallenen Box und beugte sich darüber, um etwas herauszuholen. Maryann hatte für einen kurzen Moment einen freien Blick auf seine – in ihren Augen – knackige Kehrseite. Er griff sich das Abschleppseil und sprang vom Auto. Mit routinierten Bewegungen nahm er den Käfer an den “Haken”. “So, Du kannst jetzt bei Dir einsteigen und mir unauffällig folgen.” Mit einem Grinsen tippte er sich an den Hut und stieg bei sich ein. Maryann tat es ihm eiligst gleich. Clive startete den Motor und fuhr an. Es ruckte kurz und der Käfer nahm ebenfalls Fahrt auf. 

Maryann saß hinter dem Steuer und schaute etwas verunsichert nach vorn. Ihre Aufgabe bestand nur darin, den Wagen zu halten und nicht gegenzusteuern. Er meinte, dass sie das wohl schaffen dürfte. Bei genauerem Überlegen war das eigentlich eine Frechheit. Was glaubte er eigentlich, wer er sei. Sie konnte zwar keine Autos reparieren, aber ihren Führerschein hatte sie nicht in einer Lotterie gewonnen. Aufgeblasener Wichtigtuer.

Maryann hatte gerade Zeit und nichts Besseres zu tun, also dachte sie über ihre derzeitige Situation nach. War echt blöd, dass ihr Kurzurlaub gleich mit einer Autopanne begann. Glücklicherweise kam hier in der Einöde ein Typ vorbei und bot Hilfe an. Diese Hilfe konnte sie mehr als gebrauchen. Aber war es wirklich schlau, von ihm auf seine Farm geschleppt zu werden? Außer seinen Namen wusste sie nichts über ihn. Wo genau war die Farm? Hatte er Frau und Familie oder lebte er gar allein? Gott, sie hatte den Verstand verloren. Wie oft hatte sie über vermisste Frauen gelesen. Allein auf einer Farm und keiner könnte ihr helfen. Vielleicht würde man nach ein paar Jahren durch Zufall ihre Leiche finden. Wenn überhaupt. Maryann wurde heiß und kalt zugleich. Ihr erster Impuls war, auf die Bremse zu treten. Doch beim Blick aus der Windschutzscheibe sah sie vor sich auf einen riesigen Pickup. Bremsen war keine gute Idee. Sie atmete tief durch und griff zu ihrem Handy, um ihre Freundin anzurufen. Mit Bedauern stellte sie fest, gerade kein Netz zu haben. Panik breitete sich aus. Sie atmete tief durch. Bisher ist nichts passiert und Clive machte eigentlich auch nicht den Eindruck eines Serienkillers. Aber sie kannte ihn nicht und daher war der erste Eindruck nicht gerade verlässlich. Sie entschied sich, ihrer Freundin eine WhatsApp zu schicken. Die würde jedenfalls zugestellt werden, sobald ein Netz zur Verfügung stand. Nachdem sie einen kurzen Sachstand mit einer mehr als unzureichenden Ortsangabe abgeschickt hatte, beruhigte sich ihr Puls etwas. Was wusste sie über Clive? Groß, gut gebaut, 3-Tage-Bart, verschmitztes Lächeln. Nicht zu vergessen sein Knackarsch. Es hätte sie schlimmer treffen können. Ein Trucker zum Beispiel mit schlechten Zähnen, Alkoholfahne und fettem Bierbauch. Nein, Clive war das genaue Gegenteil. Nun musste sie grinsen. Eigentlich hatte sie den Jackpot gezogen. Sie musste es sich nur klar machen und sich einfach mal mit der Situation arrangieren. Auf seinem Hof würde Clive ihr Auto reparieren, sie würde artig Danke sagen und ihre Reise fortsetzen können. Später könnte sie dann ihren Freunden von ihrem kleinen unplanmäßig eingelegten Abenteuer erzählen und mit den anderen beim Lagerfeuer herzhaft darüber lachen. Sie grinste in sich hinein und schaute direkt nach vorn. Clive schaute in diesem Moment in den Rückspiegel und ihre Blicke trafen sich.

* * * * *

Die ganze Situation war irgendwie surreal. Nur weil er sein Helfersyndrom nicht im Griff hatte, saß ihm jetzt eine „Möchtegernblondine“ quasi im Nacken und würde ihm mit Sicherheit ziemlich auf den Zeiger gehen. Allein schon ihre kunstvoll drapierte Sonnenbrille im Haar. Sonnenbrillen gehörten AUF die Augen. Da war er sehr pragmatisch. Ihm war sofort ihr halb aufgerissenes Kleid aufgefallen. Das kommt davon, wenn man ungefragt fremde Weiden betritt und Stacheldrahtzäune unterschätzt. Clive grinste. Er hatte sofort bemerkt, dass es ihr unangenehm war und verkniff sich einen Spruch. Stattdessen hielt er den Stacheldrahtzaun nach oben. Sie war nach kurzem Zögern und ohne maulen unter den Zaun zu ihm zurück gekrabbelt. Das imponierte ihm irgendwie. Eigentlich wollte er sie so schnell wie möglich wieder loswerden. Doch ein kaputter Käfer kam ihm in die Quere. Die nächste Werkstatt war meilenweit entfernt, so dass er eigentlich keine Wahl hatte, außer sie mit zur Farm zu nehmen.

Clive nahm einen kräftigen Zug von seiner Zigarette. Er schätzte, wenn er schnell war, woran er nicht zweifelte, könnte sie nach einer halben Stunde die Farm verlassen und zu ihrem Date fahren. Apropos Date. Das musste ja ein heißer Typ sein, wenn sie so eine lange Fahrt auf sich nahm. Wahrscheinlich hatte der Kerl viel Kohle. Sie sprach davon, Sandusky sei ihr Ziel. Ein Küstenort am Eriesee. Versnobte Einwohner mit elitärer Lebensweise. Maryann fuhr einen uralten Käfer und machte auf ihn keinen wohlhabenden Eindruck. Wahrscheinlich hatte sie sich in Sandusky einen Goldesel angelacht, der sich mit Sicherheit mit einer Sonnenbrille im Haar beeindrucken ließ. Er schüttelte mit dem Kopf und schaute in den Rückspiegel. Ihre Blicke trafen sich. Clive meinte, Panik in ihren Augen erkannt zu haben. Das war merkwürdig. Warum jetzt schon, wo sie ihn doch überhaupt noch nicht richtig kennengelernt hatte? Sein Interesse war schlagartig geweckt. ‚Tja Püppi, Zeit zum Spaß haben‘ dachte er für sich, grinste und gab Gas.


III.

Nach einer gefühlten Ewigkeit und nicht endend wollenden Weiden bog der Pickup rechts in einen kleinen Weg ab. Die Weiden wechselten in hochgewachsenen Mais über. Nun ging die Fahrt munter mitten durch die Felder. Maryann bekam das Gefühl, langsam die Orientierung zu verlieren. Der Mais stand schon hoch, so dass sie außer Maispflanzen links und rechts nichts mehr sah. Aufgrund der flotten Fahrweise des Pickups ging sie davon aus, Clive wüsste, was er tat. Und was sollte ihr bitteschön schon in einem Maisfeld passieren. Es sind nur Pflanzen. Ohne jegliche Vorwarnung endete der Feldweg und vor ihr erhob sich ein rustikales Holzhaus, umsäumt von einem weitläufigen Zaun. Clive fuhr jetzt langsamer und kam vor dem Zaun zum Stehen. Maryann trat geistesgegenwärtig auf die Bremse. Nicht dass sie ihm noch auffuhr. Clive stieg aus, öffnete den Zaun um sodann weiterfahren zu können. Überraschend vorsichtig fuhr er durch um vor einer kleinen Scheune endgültig zum Stehen zu kommen.

Maryann stieg aus und schaute sich neugierig um. Es waren nur Felder, das Holzhaus, ein Vorgarten und vor der Scheune Arbeitsutensilien. Alles in allem nichts Besonderes. Und doch fühlte sie sich auf Anhieb wohl. Clive beobachtete sie amüsiert. Typisches “Stadtmädel” trifft auf pure Natur. “Falls Du Dich umziehen möchtest, kannst Du gerne ins Haus gehen.” Sie schaute ihn verdutzt an. “Wieso sollte ich mich umziehen wollen?” Er zündete sich eine Zigarette an und schaute demonstrativ an ihr runter. Sie tat es ihm gleich und wurde auf einen Schlag knallrot im Gesicht. Peinlich – ihr Kleid war ja halbwegs zerrissen. Ihr Kurzurlaub fing langsam an, sich zu einer Vollkatastrophe zu entwickeln. “Ja, Du hast Recht. Ich gehe mir flugs etwas Ordentliches anziehen.” Mit immer noch roten Wangen ging sie zum Wagen, fummelte etwas aus ihrer Tasche und verschwand eilig in seinem Haus. Er schüttelte mit dem Kopf. Keine Ahnung was er von ihr halten sollte. Der erste Eindruck von ihr war eine oberflächliche Zicke. Aber irgendwie fand er sie auch niedlich. Er glaubte, dass sie einfach ein Händchen für Missgeschicke hatte. Der Riss im Kleid war blöd, aber nicht dramatisch. Trotzdem war sie nicht mehr von einer Tomate zu unterscheiden. Er verstand bloß nicht, wieso. Es war ja nicht so, dass sie halbnackt vor ihm stand. Der Riss zeigte alles und doch wieder nichts. Das Kleid war nur kaputt. Clive trat seine Zigarette aus und ging zu ihrem Wagen. Von allein würde der nicht mehr laufen. Soviel stand fest.

Peinlich berührt betrat Maryann sein Haus. Sie hatte eine typische Junggesellenbude erwartet mit einem Haufen Chaos. Stattdessen empfing sie ein aufgeräumtes Haus. Er hatte alles mit warmen Holzmöbeln ausgestattet. Schien auf den ersten Blick stimmig und sie fühlte sich auf Anhieb wohl. Aber irgendetwas passte nicht. Es war zu ordentlich. Also schloss sie daraus, dass es auch eine Frau geben musste. Ohne zu wissen warum, gefiel ihr dieser Gedanke nicht. ‘Jetzt wirst Du aber albern’ schalt sie sich. Er war ein eingebildeter Möchtegerncowboy. Seine Familienverhältnisse konnten ihr total egal sein. Maryann schaute sich nach der Gästetoilette um. Nach kurzer Suche hatte sie sie am Ende des Flurs entdeckt und ging hinein. Eilig zog sie das kaputte Kleid an und schlüpfte in kurze Jeans. Dazu schmiss sie ein T-Shirt über. Fertig. Sie wollte ihn auf keinen Fall so lange warten lassen. Das empfand sie als unangenehm. Als sie wieder vor die Tür trat, sah sie ihn schon wieder an ihrem Auto werkeln. Das hatte sie irgendwie verdrängt. Sie war froh, wenn der Wagen wieder lief und sie endlich weiterfahren konnte. Sie wollte zu ihm rüber laufen stoppte aber. Es war selten, dass ein so verdammt gutaussehender Typ sich um ihr Auto kümmerte. Wenn sie ehrlich war, gab es nur Mike den Mechaniker. Mike hatte schon gut die 50 überschritten, leichter Bauchansatz und er roch immer nach gebratenem Speck. Kein Vergleich zu Clive. Sie schätzte ihn Anfang 30. Er war sportlich und mehr als gut gebaut. Allein schon seine Oberarme waren eine Sünde wert. Und wenn er sprach meinte sie, durch seine Stimme dahinzuschmelzen. Sei es drum. Träumereien brachten sie auch nicht weiter. Sie atmete tief durch und ging zum Auto. Sie verstaute ihr kaputtes Kleid in ihrer Tasche. “Ich sehe, Du werkelst schon an meinem Auto.” Clive schaute auf. Die kurze Jeanshose stand ihr ausgezeichnet. Besser als dieses blöde Sommerkleidchen. Seine Meinung. “Yo, habe einen näheren Blick riskiert. Leider muss ich Dir sagen, dass es mit Deinem Schätzchen gerade nicht gut aussieht. Komm mal her zu mir.” Sie ging nach hinten. “Siehst Du das hier?” Er zeigte auf Teile im Motorraum. Sie konnte damit leider so überhaupt nichts anfangen. “Ja, ich sehe, was Du mir zeigst, aber was soll mir das sagen?” “Du hast ein Problem mit dem Zündverteiler. Schau mal hier, die Kappe ist gebrochen und der Zündverteiler arbeitet nicht mehr.” Das hatte sie verstanden. “Ok, kann man das reparieren?” Sie schaute ihn mit großen unschuldigen Augen an. Ihre Unwissenheit schien echt zu sein. Er nickte. “Sicher, aber dafür benötige ich Ersatzteile. Die habe ich aber nicht auf dem Hof und sind nicht so schnell zu bekommen. Ich kann frühestens morgen bei einem Kumpel anfragen. Aber heute wird es definitiv nichts mehr.” Maryann brauchte ein paar Sekunden um die Tragweite seiner Worte zu begreifen. Sie saß jetzt sprichwörtlich auf einer einsamen Farm zwischen Rindern und Mais fest. Es half nichts. Schweren Herzens musste sie wohl nochmals um Hilfe bitten. “Wäre es vielleicht möglich, dass ich eine Nacht hier im Auto verbringe? Würde ja wegfahren, wenn das Auto könnte.” Clive merkte sofort, dass ihr diese einfache harmlose Frage sehr schwer fiel. “Klar kannst Du hier pennen. Aber vom Auto würde ich abraten. Hier gibt es wilde Tiere.” Er sah, dass bei ihr Panik aufkam. Das war ehrlich und nicht gespielt. Bevor sie hyperventilierte setzte er nach. “Hör mal, ich habe ein einfaches aber komfortables Gästezimmer. Du kannst dort gerne übernachten.” Maryann war klar, dass sie keine andere Möglichkeit hatte. “Ok, aber ich möchte nicht, dass Du das Auto reparierst und mir eine Unterkunft bietest, ohne dafür eine Gegenleistung zu bekommen. Sag mir bitte einen Betrag, den ich Dir schulde.” Da war sie wieder – diese Unbeholfenheit. Einfach niedlich. Er grinste. “Ich will kein Geld sondern Naturalien.” Ihr gefror das Blut in den Adern. Bei dem Grinsen und dem Unterton wollte er mit Sicherheit statt Geld Sex mit ihr. Sie fühlte sich mehr als unwohl. Aber wie sollte sie mit einem kaputten Auto schnell weg. Ihre Situation erschien ihr ausweglos. “Also, ich weiß nicht woran Du gerade denkst, aber ich habe in Deinem Auto einen prall gefüllten Picknickkorb gesehen. Da Du heute definitiv nicht nach Sandusky kommst wäre es schade um die Leckereien.” Mein Gott, war sie blöd. Erleichterung machte sich breit. Egal wie schlecht sie von ihm dachte, er bewies ihr jedes Mal das genaue Gegenteil. “Klar, dann habe ich zumindest keine Schulden mehr bei Dir.” “Also sind wir uns einig. Schnapp Dir Deine Tasche, ich nehme den Korb und wir machen es uns drinnen in der Küche gemütlich.” Maryann nahm ihre Tasche und wollte das Auto abschließen. Clive sah es und lachte lauthals. “Du musst hier nicht abschließen. Der nächste Nachbar ist ein paar Meilen entfernt. Dein kleiner Schrotthaufen ist hier sicher.” Sie lachte und folgte ihm ins Haus. So ungewöhnlich ihr Kurzurlaub auch angefangen hatte, jetzt schien das Abenteuer zu starten. Sie hatte keine Ahnung, was dieser Abend noch für sie bereit hielt. Ihre eigentlichen Pläne in Sandusky schienen jedenfalls in diesem Moment ganz weit weg.


IV.

Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Trotzdem erfüllte eine leichte innere Unruhe Maryann. Sie hatte leider keinen Tiefschlaf gefunden letzte Nacht. Das lag wahrscheinlich daran, dass sie einen aufregenden Tag hinter sich hatte. Der gestrige Abend fing lustig an und endete ebenso. Clive hatte sich ihren Picknickkorb geschnappt und ihn „fachmännisch“ in der Küche inspiziert. Wie ein kleiner aufgeregter Junge holte er Teil für Teil hervor. Mit jeder weiteren Chipstüte wuchs die Enttäuschung. Doch beim Anblick der Flasche Sekt konnte er nicht mehr an sich halten. Er schaute sie an und fragte, ob sie mit dem „Mädchengesöff“ ernsthaft ihr eigentliches Date beeindrucken wollte. Sie würde ganz klar Hilfe benötigen. So könne das mit den Männern ja nichts werden. Maryann musste bei dem Gedanken an gestern wieder schmunzeln. Nachdem sie ihn über das Gruppentreffen aufgeklärt hatte schien das Eis endgültig gebrochen zu sein. Statt eines richtigen Abendessens gab es eine wahre Chipsschlacht. Keine Tüte überlebte den Abend. Beide saßen auf dem Boden im Wohnzimmer. Mit Kribbeln dachte sie an den Moment zurück als Clive die M&Ms zu fassen kriegte. Sie liebte diese kleinen Schokolinsen. Er machte jedoch ein Spiel daraus. Wer sie am längsten in der Hand hielt, gewann. Der Verlierer musste einen Kurzen trinken. Das war eine harte Strafe. Sie mochte keine Kurzen. Aber sie kniff nicht und hielt die Schokolinsen in ihrer Hand. Clive saß ihr gegenüber und nahm ebenfalls eine Hand voll. Er sah attraktiv aus in seinem kurzärmeligen T-Shirt. Die Arme muskulös und braungebrannt von der Arbeit auf dem Feld. Sie schaute in sein markantes Gesicht. Seine Augen strahlten sie herzlich und offen an. Jedes von ihm gesprochene Wort zauberte wahre Muskelspiele um seinen Mund und Hals. Ihr wurde warm. Das war nicht gut. Wärme und Schokolade passte nicht zusammen. Bevor sie eine verschmierte Hand hatte, öffnete sie diese lieber. Und verlor. Die Strafe folgte auf dem Fuß und sie musste einen Kurzen trinken. Es brannte wie Feuer im Hals und Magen. Geschmeckt hat es auch nicht wirklich. Nach dem dritten Mal verlieren gab sie komplett auf. Sie hatte schon leicht einen sitzen.

Clive beobachtete sie amüsiert. Sein allererster Eindruck von ihr als Zicke hatte sich die letzten Stunden verflüchtigt. Sie lachte viel und herzlich und war sich für keinen Blödsinn zu schade. Er hatte viel Spaß mit ihr. Es schien fast so, als wenn sie bei ihm Knöpfe drückte als wäre es ein Kinderspiel für sie. Ihr herzliches unbefangenes Lachen kam aus tiefstem Herzen und bewegte etwas in ihm. Clive war sich sicher, sie war sich ihrer Wirkung auf ihn nicht bewusst. Er hätte diesen Abend open end mit ihr verbringen können. Sein Testesteronspiegel stieg ebenfalls stetig an. Es gab allerdings zwei kleine Probleme. Sie vertrug nicht viel Alkohol und am nächsten Tag wollte sie zu ihren Freunden fahren. Er brauchte einen Plan. Und das ziemlich schnell. Bevor er näher darüber nachdenken konnte, stand Maryann auf um Richtung Badezimmer zu gehen. Leider übersah sie dabei die Ecke des Tisches neben sich und eine Kollision mit ihrem Oberschenkel war unausweichlich. Clive sah es und spürte förmlich den Schmerz. Maryann zuckte zusammen, griff sich an den Oberschenkel, aber sagte nichts.

‚Verdammte scheiße‘ dachte sie. Wieso musste so etwas immer in den ungünstigsten Momenten passieren. Das war echt peinlich. Jetzt musste er ja denken, dass sie ein kompletter Volltrottel sei. Bloß nicht rumjammern. Nicht dass er sie noch als Heulsuse abstempelte. Ihr Bein schmerzte zwar, aber sie biss lieber die Zähne zusammen. 

Clive hatte sie nicht aus den Augen gelassen und war überrascht über das Schauspiel. Die Tischecke hatte sich in ihren Oberschenkel gebohrt. Jeder normale Mensch hätte eine Schreckreaktion an den Tag gelegt und zumindest vor Schmerz kurz aufgeschrien. Er selbst wahrscheinlich auch. Nicht Maryann. Ihm fiel ihr innerer Kampf gegen den Schmerz auf. Doch es kam keine Silbe über ihre Lippen. Sie atmete tief durch, meinte es sei alles in Ordnung und ging ins Bad.

Clive blieb nachdenklich zurück und sortierte das Geschehen für sich ein. Seine Gedanken blieben bei den M&Ms und dem Malheur mit der Tischkante hängen. Fakt war, sie hatte sein Spiel mit der Schokolade nicht kapiert. Die Schokolinsen schmolzen bekanntlich im Mund, aber nicht in der Hand. Sie war jedoch ängstlich, wollte verschmutzte Hände vermeiden und verlor immer wieder gegen ihn. Schmerzen schien sie aus falsch verstandener Eitelkeit ebenfalls nicht zuzulassen. Perfekte Voraussetzungen. Sein Jagdinstinkt, der seit längerer Zeit schlief, war geweckt.